Überhöhte Invaliditätsleistungen in der Unfallversicherung
Das Fehlen eines Neubemessungsvorbehalts im Sinne von Ziffer 9.4 Satz 3 AVB Unfallversicherung (hier: AUB 1999) in der Erklärung des Unfallversicherers über die Leistungspflicht zur Erstbemessung der Invalidität nach Ziffer 9.1 Satz 1 AUB führt nicht zu seiner Bindung an diese Erklärung im Verfahren der Erstbemessung. Der Rückforderung einer Invaliditätsleistung aufgrund geänderter Erstbemessung der Invalidität kann aber der Einwand unzulässiger Rechtsausübung entgegenstehen, wenn der Versicherer in der vorgenannten Erklärung nach Ziffer 9.1 Satz 1 AUB den Eindruck erweckt, die Höhe der vertraglich geschuldeten Leistung endgültig klären zu wollen.
die Erklärung des Unfallversicherers, ob und in welcher Höhe er einen Anspruch anerkennt, ist nach den Versicherungsbedingungen nur eine einseitige Meinungsäußerung des Versicherers und Information an den Anspruchsberechtigten, welche die Fälligkeit der anerkannten Entschädigung herbeiführt, im Übrigen aber keine rechtsgeschäftliche, potentiell schuldbegründende oder schuldabändernde Regelung bewirken soll. D as hat der Bundesgerichtshof zu den §§ 11, 13 der Allgemeinen UnfallversicherungsBedingungen 1961 (im Folgenden: AUB 1961)1 im Urteil vom 24.03.1976 im Einzelnen ausgeführt2. Diese Entscheidung hat, nicht beschränkt auf die AUB 1961, auch im Hinblick auf spätere Fassungen der Allgemeinen UnfallversicherungsBedingungen und die im Streitfall gemäß Artikel 1 Abs. 2 EGVVG nicht anwendbare Bestimmung des § 187 VVG, breite Zustimmung gefunden3. Sie ist auch auf die AUB 1999 übertragbar4, da diese als Rechtsfolge einer für den Versicherungsnehmer positiven Erklärung des Versicherers nach Ziffer 9.1 Satz 1 AUB 1999 ebenfalls nur anordnen, dass der Anspruch gemäß Ziffer 9.2 AUB 1999 innerhalb von zwei Wochen fällig wird.
Rechtsgrund der Invaliditätsleistung ist danach nicht die Erklärung des Unfallversicherers, dass er den Anspruch in einer bestimmten Höhe anerkennt, sondern weiterhin der Versicherungsvertrag5. Ist die ausgezahlte Invaliditätsleistung vertraglich nicht oder nicht in voller Höhe geschuldet, steht dem Unfallversicherer daher grundsätzlich ein Herausgabeanspruch aus § 812 Abs. 1 Satz 1 Alt. 1 BGB zu, wobei es ihm obliegt, dessen Voraussetzungen darzulegen und zu beweisen6.
Dieser Rückforderungsanspruch ist nicht deswegen ausgeschlossen, weil der Versicherer in seinem Abrechnungsschreiben das Recht auf Neubemessung der Invalidität nicht gemäß Ziffer 9.4 Satz 3 AUB 1999 ausgeübt bzw. sich vorbehalten hat. Das ergibt für den Bundesgerichtshof die Auslegung von Ziffer 9.1 und 9.4 AUB 1999.
Allgemeine Versicherungsbedingungen sind so auszulegen, wie ein durchschnittlicher, um Verständnis bemühter Versicherungsnehmer sie bei verständiger Würdigung, aufmerksamer Durchsicht und unter Berücksichtigung des erkennbaren Sinnzusammenhangs versteht. Dabei kommt es auf die Verständnismöglichkeiten eines Versicherungsnehmers ohne versicherungsrechtliche Spezialkenntnisse und damit auch auf seine Interessen an. In erster Linie ist vom Bedingungswortlaut auszugehen. Der mit dem Bedingungswerk verfolgte Zweck und der Sinnzusammenhang der Klauseln sind zusätzlich zu berücksichtigen, soweit sie für den Versicherungsnehmer erkennbar sind7.
Nach diesen Maßgaben führt das Fehlen eines Neubemessungsvorbehalts im Sinne von Ziffer 9.4 Satz 3 AUB 1999 nicht zu einer Bindung des Unfallversicherers an die streitgegenständliche Erstbemessung der Invalidität.
Der durchschnittliche Versicherungsnehmer kann den Regelungen in Ziffer 9.1 und 9.4 AUB 1999 zunächst entnehmen, dass im Recht der Unfallversicherung zwischen der Erstbemessung der Invalidität und ihrer Neubemessung zu unterscheiden ist8. Er wird erkennen, dass der Versicherer gemäß Ziffer 9.1 Satz 1 AUB 1999 verpflichtet ist, bei einem geltend gemachten Invaliditätsanspruch innerhalb von drei Monaten ab dem Eingang bestimmter Unterlagen zu erklären, o b und in welcher Höhe er einen Anspruch anerkennt. Aus Ziffer 9.4 Satz 1 AUB 1999 wird er entnehmen, dass beide Vertragsparteien berechtigt sind, den Grad der Invalidität jährlich, längstens bis zu drei Jahren nach dem Unfall, erneut ärztlich bemessen zu lassen, eine derartige Neubemessung der Invalidität in der Regel mithin erst nach vorangegangener Erstbemessung in Betracht kommt9.
Der durchschnittliche Versicherungsnehmer wird ferner erkennen, dass das in Ziffer 9.4 Satz 3 AUB 1999 geregelte Vorbehaltserfordernis allein auf die Neubemessung der Invalidität bezogen ist. Das ergibt sich für ihn aus dem klaren Wortlaut der Regelung. Nach diesem muss der Versicherer ʺdieses Rechtʺ zusammen mit seiner Erklärung über die Leistungspflicht nach Ziffer 9.1 Satz 1 AUB 1999 ausüben. Mit „diesem Recht“ ist erkennbar allein das in Satz 1 der Ziffer 9.4 AUB 1999 geregelte Neubemessungsrecht gemeint.
Er wird hieraus sodann folgern, dass der Unfallversicherer nicht deswegen an seine Erstbemessung der Invalidität gebunden ist, weil er das Recht zur Neubemessung nicht zusammen mit seiner Erklärung über die Leistungspflicht gemäß Ziffer 9.4 Satz 3 AUB 1999 ausgeübt hat. Denn nach dem Gesagten erkennt er, dass das Vorbehaltserfordernis nicht die Erst, sondern allein die Neubemessung der Invalidität betrifft . Hieraus wird er ohne Weiteres schließen, dass sich aus dem Vorbehaltserfordernis keine Folgen für die von der Neubemessung gerade zu unterscheidende Erstbemessung ableiten lassen. Auslegungszweifel im Sinne des § 305c Abs. 2 BGB bestehen insofern nicht.
Die weitere, kontrovers diskutierte Frage, ob der Unfallversicherer bei Nichtausübung des Neubemessungsrechts nach den Versicherungsbedingungen an einer Rückforderung der Invaliditätsleistung gehindert ist, wenn sich aufgrund eines allein vom Versicherungsnehmer initiierten Neubemessungsverfahrens ergibt, dass sich sein Gesundheitszustand im Vergleich zur Erstbemessung verbessert hat10, kann im Streitfall offenbleiben. Grundlage jeder Neubemessung der Invalidität sind Veränderungen im Gesundheitszustand des Versicherungsnehmers gegenüber demjenigen Zustand, der der Erstbemessung zugrunde liegt11. Um solche Veränderungen geht es hier nicht.
Allerdings kann dem auf eine abweichende Beurteilung des Invaliditätsgrades gestützten Rückforderungsverlangen der Versicherungsgesellschaft steht der Einwand der unzulässigen Rechtsausübung (§ 242 BGB) entgegen stehen.
Eine Rechtsausübung kann unzulässig sein, wenn sich objek tiv das Gesamtbild eines widersprüchlichen Verhaltens ergibt, weil das frühere Verhalten mit dem späteren sachlich unvereinbar ist und die Interessen der Gegenpartei im Hinblick hierauf vorrangig schutzwürdig erscheinen12.
So lag es auch in dem hier vom Bundesgerichtshof entschiedenen Streitfall: Das Rückforderungsverlangen der Versicherungsgesellschaft ist mit dem Inhalt ihres Abrechnungsschreibens sachlich unvereinbar. Die Versicherungsgesellschaft hat mit diesem Schreiben beim Versicherungsnehmer den Eindruck erweckt, dass sie damit gut drei Jahre nach dem Unfallereignis die Höhe ihrer vertraglich geschuldeten Leistung endgültig klären wollte. In dem Schreiben heißt es, das ausdrücklich als solches bezeichnete „Abschlussgutachten“ liege nunmehr vor und die Versicherungsgesellschaft rechne den Unfallschaden in der im Schreiben angegebenen Höhe „abschließend“ ab; die Invaliditätssumme von 51.000 € bezeichnet die Versicherungsgesellschaft als ihre „Leistung“. Der insbesondere durch die Verwendung der Begriffe „abschließend“ und „Abschlussgutachten“ hervorgerufene Eindruck, dass es endgültig bei der im Schreiben enthaltenen Abrechnung bleiben und die Versicherungsgesellschaft zukünftig nicht mehr auf die Invaliditätsleistung zurückkommen werde, wird noch dadurch verstärkt, dass das Schreiben damit endet, dass sie dem Versicherungsnehmer „für die Zukunft alles Gute“ wünscht.
Durch die genannten Formulierungen hat die Versicherungsgesellschaft aktiv einen Vertrauenstatbestand geschaffen, die im Rahmen der Erstbemessung ermittelte Invaliditätsleistung nicht später aufgrund einer anderweitigen Erstbemessung zurückzufordern. Dieser Vertrauenstatbestand ist von besonderem Gewicht, weil der Unfallversicherer insofern ähnlich wie der Berufsunfähigkeitsversicherer hinsichtlich der von ihm versprochenen Versicherungsleistung13 regelmäßig über überlegene Sachund Rechtskunde im Hinblick auf die spezielle Ausgestaltung der Invaliditätsleistung durch die Versicherungsbedingungen mit der Unterscheidung zwischen der Erstund der Neubemessung des Grades der Invalidität und dem Erfordernis der Einhaltung bestimmter Fristen14 sowie die Möglichkeit ihrer Rückforderung verfügt. Unabhängig davon, dass das Versicherungsvertragsverhältnis generell in besonderer Weise vom Grundsatz von Treu und Glauben beherrscht wird15, muss sich der Versicherungsnehmer aufgrund der überlegenen Sachund Rechtskunde des Unfallversicherers in gesteigerter Weise auf dessen die Invaliditätsleistung betreffenden Erklärungen verlassen können.
Das Vertrauen des Versicherungsnehmers, nicht entgegen diesem Abrechnungsschreiben des Versicherers auf Rückzahlung der Invaliditätsleistung in Anspruch genommen zu werden, ist vorrangig schutzwürdig. Wie ausgeführt erweckt dieses den Eindruck, dass die Versicherungsgesellschaft nunmehr nach Ablauf von mehr als drei Jahren die Höhe ihrer vertraglich geschuldeten Leistung endgültig klären wollte. Die besondere Schutzwürdigkeit des von der Versicherungsgesellschaft durch das Schreiben hervorgerufenen Vertrauens des Versicherungsnehmers in den Bestand der Invaliditätsleistung wird nicht dadurch abgeschwächt, dass ihm eine einfache Möglichkeit zur Verfügung gestanden hätte, selbst Klarheit darüber zu gewinnen, ob er einem Rückforderungsanspruch ausgesetzt sein kann, wenn sich die Erstbemessung des Invaliditätsgrades als zu hoch erweist. Selbst wenn er das Schreiben zum Anlass genommen hätte, anhand der vereinbarten UnfallversicherungsBedingungen der Frage des Bestehens eines solchen Anspruchs nachzugehen, hätte er auf diese Weise keine vom Schreiben abweichenden Informationen gewonnen. Die die Erstbemessung betreffende Bestimmung in Ziffer 9.1 AUB 1999 schweigt zu einem Rückforderungsanspruch bei einer fehlerhaften Erstbemessung; der Anspruch ergibt sich nur aus dem Gesetz (§ 812 Abs. 1 Satz 1 Alt. 1 BGB).
Dieses Ergebnis steht nicht in Widerspruch zu dem BGH, Urteil vom 24.03.1976. Zwar hat der Bundesgerichtshof dort ausgeführt, dass der notwendige Vertrauensschutz des gutgläubigen Empfängers der Versicherungssumme im Wesentlichen durch die spezielle Regelung des § 818 Abs. 3 BGB gewährleistet werde16. Aber der spezifische Einwand der unzulässigen Rechtsausübung, dessen Voraussetzungen im Streitfall erfüllt sind, war nicht Gegenstand der Entscheidung.
Bundesgerichtshof, Urteil vom 11. September 2019 – IV ZR 20/18
- abgedruckt bei Grimm, Unfallversicherung 5. Aufl. Teil 1 E [↩]
- BGH, Urteil vom 24.03.1976 – IV ZR 222/74, BGHZ 66, 250 unter – II 2 b aa 23] [↩]
- vgl. OLG Frankfurt am Main r+s 2018, 434 Rn. 43; OLG Saarbrücken VersR 2014, 456 44, 48]; OLG Köln r+s 2014, 362 24]; OLG Hamm VersR 2005, 346 42]; BeckOK VVG/Jacob, § 187 Rn. 11 [Stand: 28.02.2019]; Leverenz in Bruck/Möller, VVG 9. Aufl. § 187 Rn. 7 ff.; Grimm, Unfallversicherung 5. Aufl. AUB 2010 Ziff. 9 Rn. 2; Jacob, Unfallversicherung AUB 2014 2. Aufl. Ziff. 9 Rn.19; Rixecker in Langheid/Rixecker, VVG 6. Aufl. § 187 Rn. 1; Götz in Looschelders/Pohlmann, VVG 3. Aufl. § 187 Rn. 6; MünchKomm-VVG/Dörner, 2. Aufl. § 187 Rn. 4; Knappmann in Prölss/Martin, VVG 30. Aufl. § 187 Rn. 6; Kloth, Private Unfallversicherung 2. Aufl. Teil P Rn. 3; Marlow/Tschersich, r+s 2011, 453, 458 f. [↩]
- vgl. Grimm, Unfallversicherung 4. Aufl. AUB 1999 Ziff. 9 Rn. 2; Knappmann in Prölss/Martin, VVG 27. Aufl. AUB 1994 § 11 Rn. 4 [↩]
- vgl. Jacob, r+s 2018, 436; ders., jurisPRVersR 4/2017 Anm. 2 unter C [↩]
- vgl. OLG Brandenburg VersR 2018, 89 unter A 15 ff.]; OLG Hamm VersR 2006, 1674 unter 2 c aa 27]; Jacob, Unfallversicherung AUB 2014 2. Aufl. Ziff. 2.1 Rn. 180; Götz in Looschelders/Pohlmann, VVG 3. Aufl. § 187 Rn. 6; MünchKomm-VVG/Dörner, 2. Aufl. § 187 Rn. 5; Knappmann in Prölss/Martin, VVG 30. Aufl. § 187 Rn. 6; Kloth, Private Unfallversicherung 2. Aufl. Teil P Rn. 13; Marlow/Tschersich, r+s 2011, 453, 459 [↩]
- BGH, Urteil vom 06.03.2019 – IV ZR 72/18, VersR 2019, 542 Rn. 15; st. Rspr. [↩]
- vgl. BGH, Urteile vom 18.10.2017 – IV ZR 188/16, VersR 2017, 1386 Rn. 18; vom 18.11.2015 – IV ZR 124/15, BGHZ 208, 9 Rn. 10; BGH, Beschluss vom 16.01.2008 – IV ZR 271/06, VersR 2008, 527 Rn. 10 f. [↩]
- vgl. BGH, Urteil vom 18.11.2015 aaO; BGH, Beschluss vom 16.01.2008 aaO [↩]
- bejahend: OLG Düsseldorf VersR 2019, 87 26 ff.] m.w.N.; OLG Frankfurt am Main VersR 2009, 1653 15]; verneinend: OLG Brandenburg VersR 2018, 89 unter A 1 14 f.] m.w.N. [↩]
- BGH, Beschluss vom 22.04.2009 – IV ZR 328/07, VersR 2009, 920 Rn.19; vgl. ferner OLG Saarbrücken VersR 2014, 456 unter 2 b aa (2) 46] [↩]
- BGH, Urteil vom 16.07.2014 – IV ZR 73/13, BGHZ 202, 102 Rn. 33; BGH, Urteil vom 10.01.2019 – IX ZR 89/18, ZIP 2019, 423 Rn. 25; jeweils m.w.N. [↩]
- vgl. BGH, Beschluss vom 15.02.2017 – IV ZR 280/15, VersR 2017, 868 Rn. 16 m.w.N. [↩]
- vgl. zu letzterem BT-Drs. 16/3945 S. 109 li. Sp. [↩]
- vgl. BGH, Urteil vom 14.01.2015 – IV ZR 43/14, VersR 2015, 230 Rn. 11; BGH, Urteil vom 08.07.1991 – II ZR 65/90, VersR 1991, 1129 unter 2 b 15] m.w.N.; vgl. zur Problematik fehlerhafter Erstbemessung auch Jungermann, r+s 2019, 369 ff. [↩]
- BGH, Urteil vom 24.03.1976 – IV ZR 222/74, VersR 1977, 471 unter – III 3 a 36], insoweit in BGHZ 66, 250 nicht abgedruckt [↩]