Berufsunfähigkeitsversicherung – und die Definition des versicherten Berufs
Die in Verträgen über eine Berufsunfähigkeitsversicherung verwendete Klausel „Als versicherter Beruf im Sinne der Bedingungen gilt die vor Eintritt des Versicherungsfalls zuletzt konkret ausgeübte Tätigkeit mit der Maßgabe, dass sie zu mindestens 90 Prozent als Schreibtischtätigkeit in Büro, Praxis oder Kanzlei ausgeübt wird. Im Falle einer BU-Leistungsprüfung erfolgt die Bemessung der Berufsunfähigkeit ausschließlich auf dieser Basis.“ ist intransparent.
Die vom Versicherungsunternehmen verwendete Klausel stellt eine Allgemeine Geschäftsbedingung im Sinne von § 305 Abs. 1 Satz 1 BGB dar. Es handelt sich um eine vorformulierte Vertragsbedingung, die der Versicherer (VVaG) für eine Vielzahl von Verträgen gestellt hat. Ein individuelles Aushandeln der Vertragsklausel im Sinne von § 305 Abs. 1 Satz 3 BGB liegt nicht vor.
Charakteristisch für Allgemeine Geschäftsbedingungen sind die Einseitigkeit ihrer Auferlegung sowie der Umstand, dass der andere Vertragsteil, der mit einer solchen Regelung konfrontiert wird, auf ihre Ausgestaltung gewöhnlich keinen Einfluss nehmen kann. An dem hierin durch einseitige Ausnutzung der Vertragsgestaltungsfreiheit einer Vertragspartei zum Ausdruck kommenden Stellen vorformulierter Vertragsbedingungen fehlt es dagegen, wenn sich deren Einbeziehung als das Ergebnis einer freien Entscheidung desjenigen darstellt, der vom anderen Vertragsteil mit dem Verwendungsvorschlag konfrontiert wird1. Zwar kann eine vorformulierte Vertragsbedingung ausgehandelt sein, wenn sie der Verwender als eine von mehreren Alternativen anbietet, zwischen denen der Vertragspartner die Wahl hat. Dazu genügt es aber nicht, dass der andere Vertragsteil lediglich die Wahl zwischen bestimmten, von der anderen Seite vorgegebenen Formularalternativen hat. Erforderlich ist vielmehr, dass er, wenn er schon auf die inhaltliche Gestaltung des vorgeschlagenen Formulartextes keinen Einfluss nehmen konnte, in der Auswahl der in Betracht kommenden Vertragstexte frei ist und insbesondere Gelegenheit erhält, alternativ eigene Textvorschläge mit der effektiven Möglichkeit ihrer Durchsetzung in die Verhandlungen einzubringen2.
Hiervon ausgehend hat der Bundesgerichtshof entschieden, es handele sich um Allgemeine Geschäftsbedingungen, wenn Formulare für den Vertragspartner des Verwenders zwar Wahlmöglichkeiten vorsehen, diesen aber ein vorformulierter Vorschlag hinzugefügt ist, der durch die Gestaltung des Formulars im Vordergrund steht und die anderen Wahlmöglichkeiten überlagert3. Demgegenüber liegt keine Allgemeine Geschäftsbedingung vor, wenn ein Vertragsformular eine offene Stelle hinsichtlich der Vertragslaufzeit enthält, die vom Vertragspartner des Verwenders nach seiner freien Entscheidung als selbständige Ergänzung auszufüllen ist, ohne dass vom Verwender vorformulierte Entscheidungsvorschläge hinzugefügt werden4.
Danach ist es aus Rechtsgründen nicht zu beanstanden, wenn das Berufungsgericht bei der hier streitigen Klausel von einer einseitig durch den Versicherungsunternehmen gestellten Bedingung ausgegangen ist. Er hat dem Versicherungsinteressenten auf dessen Anfrage hin lediglich zwei verschiedene Angebote unterbreitet. Während das Angebot Nr. 1 auf der Grundlage der Allgemeinen Bedingungen für die selbständige Berufsunfähigkeitsversicherung einen Jahresbeitrag von 1.593, 58 € vorsah, enthielt das Angebot Nr. 2 bei einem Jahresbeitrag von 1.127, 16 € zusätzlich die hier streitgegenständliche Klausel. Die bloße Wahlmöglichkeit des Versicherungsnehmers zwischen zwei vom Versicherer entworfenen Klauseln mit unterschiedlichem Inhalt und verschiedener Preisgestaltung führt indessen nicht dazu, dass bei der Auswahl einer dieser Klauseln durch den Versicherungsnehmer von einem individuellen Aushandeln ausgegangen werden könnte. Nach den revisionsrechtlich nicht zu beanstandenden Feststellungen des Berufungsgerichts war der Inhalt der Klauseln nicht verhandlungsfähig. Abweichendes ergibt sich auch aus den vom Beklagten vorgelegten Angeboten nicht. Es ist nicht ersichtlich, dass der Versicherungsinteressent die Möglichkeit gehabt hätte, auf die inhaltliche Ausgestaltung dieser Angebote Einfluss zu nehmen oder weitere Alternativvorschläge vorzulegen und diese effektiv in die Verhandlungen einzubringen.
Ein Aushandeln im Einzelnen setzt voraus, dass der Verwender den Kerngehalt seiner Allgemeinen Geschäftsbedingungen inhaltlich ernsthaft zur Disposition stellt und dem anderen Teil Gestaltungsfreiheit zur Wahrung eigener Interessen einräumt5. Die Darlegungslast für ein individuelles Aushandeln trifft den Verwender6. Dem ist der Versicherer (VVaG) nicht nachgekommen. Der Hinweis der Revision, es sei davon auszugehen, dass der seinerzeitige Versicherungsinteressent auf den Gehalt der Klausel hätte einwirken können, wenn er dies verlangt hätte, genügt hierfür nicht. Insbesondere war für den Versicherungsinteressenten, als der Versicherer (VVaG) ihm die beiden Angebote unterbreitete, in keiner Weise ersichtlich, dass es sich hierbei lediglich – wie die Revision geltend macht – um Extrempositionen handelte und seitens des Versicherers zwischen diesen beiden noch Verhandlungsspielraum bestand. Für einen durchschnittlichen Versicherungsinteressenten war nicht erkennbar, dass der Versicherer (VVaG) bereit gewesen wäre, einen Vertrag zu einer anderen Prämie oder einem anderen Prozentsatz einer näher festgelegten Berufsunfähigkeit abzuschließen.
Der Bundesgerichtshof hat bereits erhebliche Bedenken, ob die angegriffene Klausel nicht schon wegen unangemessener Benachteiligung des Versicherungsnehmers gemäß § 307 Abs. 2 Nr. 2 BGB unwirksam ist. Ihre Unwirksamkeit könnte sich aus einer Gefährdung des Vertragszwecks ergeben. Versichert wird in ihr lediglich eine sitzende Tätigkeit von mindestens 90 %. Die Klausel löst sich damit von einer klassischen Berufsunfähigkeitsversicherung, sichert vielmehr lediglich das Risiko einer modifizierten Erwerbsunfähigkeit ab. Dies ist indessen nicht Sinn und Zweck einer Berufsunfähigkeitsversicherung, die gerade der Absicherung der konkreten beruflich geprägten Lebensstellung dient.
Im Ergebnis muss dies jedoch nicht entschieden werden. Die Klausel verstößt nämlich jedenfalls wie das Berufungsgericht rechtsfehlerfrei angenommen hat gegen das Transparenzgebot des § 307 Abs. 1 Satz 2 BGB.
Hierbei kommt es zunächst nicht darauf an, ob die Klausel das grundsätzlich der Inhaltskontrolle entzogene Preis/Leistungsverhältnis betrifft. Aus § 307 Abs. 3 Satz 2 BGB ergibt sich, dass sich die Transparenzkontrolle auch auf das Hauptleistungsversprechen erstreckt7. Nach dem Transparenzgebot des § 307 Abs. 1 Satz 2 BGB ist der Verwender Allgemeiner Geschäfts- (hier: Versicherungs)bedingungen gehalten, Rechte und Pflichten seines Vertragspartners möglichst klar und durchschaubar darzustellen. Dabei kommt es nicht nur darauf an, dass die Klausel in ihrer Formulierung für den durchschnittlichen Versicherungsnehmer verständlich ist. Vielmehr gebieten Treu und Glauben, dass die Klausel die wirtschaftlichen Nachteile und Belastungen soweit erkennen lässt, wie dies nach den Umständen gefordert werden kann8.
Hiernach bejaht der Bundesgerichtshof eine Intransparenz der streitgegenständlichen Klausel. Nach der eigenen Auffassung des Versicherers wird für die Berufsunfähigkeit in dieser Klausel auf einen fingierten Beruf abgestellt. Der Versicherungsnehmer soll hiernach nur dann berufsunfähig sein, wenn er den fingierten Beruf nicht ausüben kann, weil ihm eine Tätigkeit, die zu mindestens 90 % als Schreibtischtätigkeit in Büro, Praxis oder Kanzlei auszuüben ist, nicht mehr möglich ist. Damit löst sich der Versicherer (VVaG) in dieser Klausel von dem Berufsbild in § 3 Abs. 1 SBU sowie in § 172 Abs. 2 VVG, indem nicht mehr – wie sonst bei Berufsunfähigkeitsversicherungen allgemein üblich – auf den tatsächlich zuletzt ausgeübten Beruf abgestellt wird, so wie er ohne gesundheitliche Beeinträchtigung ausgestaltet ist, sondern auf einen fingierten Beruf, der mit der tatsächlichen Berufstätigkeit des Versicherungsnehmers nichts zu tun haben muss. Diese Abweichung vom allgemeinen Verständnis des versicherten Berufs erschließt sich einem durchschnittlichen Versicherungsinteressenten bei der Entscheidung über die Auswahl der beiden ihm unterbreiteten Angebote nicht hinreichend. Insbesondere wird ihm nicht mit der erforderlichen Klarheit die Gefahr einer Versicherungslücke verdeutlicht, die entsteht, wenn er eine nicht sitzende oder zu weniger als 90 % sitzende Tätigkeit nicht mehr, eine zu mindestens 90 % sitzende Tätigkeit indessen weiter ausüben könnte.
Allgemeine Versicherungsbedingungen sind nach ständiger Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs so auszulegen, wie ein durchschnittlicher Versicherungsnehmer sie bei verständiger Würdigung, aufmerksamer Durchsicht und Berücksichtigung des erkennbaren Sinnzusammenhangs versteht. Dabei kommt es auf die Verständnismöglichkeiten eines Versicherungsnehmers ohne versicherungsrechtliche Spezialkenntnisse und damit auch auf seine Interessen an9. Ein durchschnittlicher Versicherungsnehmer wird die eingetretene Berufsunfähigkeit mit der von ihm zuletzt konkret ausgeübten Berufstätigkeit in Verbindung bringen, so wie sie „in gesunden Tagen“ ausgestaltet war10. In diesem Verständnis wird er durch § 3 Abs. 1 der hier vereinbarten SBU bestärkt. Von der bloßen Unfähigkeit der Berufsausübung in einem fiktiven Beruf wird er demgegenüber nicht ausgehen. Die Berufsunfähigkeitsversicherung soll für ihn erkennbar das Risiko abdecken, das für ihn infolge eines Einnahmeverlusts entsteht, wenn er seinem tatsächlich zuletzt in gesunden Tagen ausgeübten Beruf nicht mehr nachgehen kann11. Will der Versicherer (VVaG) dieses für den Versicherungsnehmer essentielle Interesse der Absicherung der Berufsunfähigkeit im zuletzt konkret ausgeübten Beruf nicht oder nicht vollständig übernehmen, so muss er dies dem Versicherungsinteressenten in unmissverständlicher Weise deutlich machen.
Dies ist durch die hier streitgegenständliche Klausel nicht geschehen. In dieser wird in ihrem ersten Satz zunächst entsprechend der allgemeinen Regelung in § 3 Abs. 1 SBU darauf abgestellt, als versicherter Beruf gelte die vor Eintritt des Versicherungsfalles zuletzt ausgeübte Tätigkeit. Das wird durch den zweiten Halbsatz indessen dahin eingeschränkt, dies gelte lediglich mit der Maßgabe, dass die Tätigkeit zu mindestens 90 % als Schreibtischtätigkeit in Büro, Praxis oder Kanzlei ausgeübt wird. In welchem Verhältnis diese beiden Satzteile zueinander stehen, wird dem Versicherungsnehmer nicht hinreichend verdeutlicht. Dies geschieht auch nicht durch den weiteren Satz, wonach im Falle einer Leistungsprüfung die Bemessung der Berufsunfähigkeit ausschließlich auf dieser Basis erfolgt. Es bleibt gerade unklar, welches die Basis für die Prüfung von Ansprüchen aus der Versicherung sein soll. So wird sich dem Versicherungsnehmer nicht ohne weiteres erschließen, dass er wie der Versicherer (VVaG) selbst vorbringt einen Anspruch auf Leistungen aus der Berufsunfähigkeitsversicherung haben kann, wenn ihm aus gesundheitlichen Gründen eine mindestens 90 %ige Schreibtischtätigkeit nicht mehr möglich ist, er eine derartige aber gar nicht ausübt, und infolgedessen in seinem bisherigen konkret ausgeübten Beruf weder berufsunfähig ist noch entsprechende Einkommensverluste hinzunehmen hat.
Wollte der Versicherer (VVaG) überhaupt nicht mehr auf die konkret vom Versicherungsnehmer im Zeitpunkt seiner Erkrankung ausgeübte Tätigkeit abstellen, sondern auf einen rein fingierten Beruf einer zu 90 % sitzend ausgeübten Schreibtischtätigkeit, so hätte er dies deutlicher herausstellen und insbesondere klarstellen müssen, dass durch diese Klausel von der allgemeinen Regelung in § 3 Abs. 1 SBU abgewichen wird. In der Sache will der Versicherer (VVaG) hier keinen konkret ausgeübten Beruf mehr versichern, sondern eine abstrakte Schreibtischtätigkeit mit einem bestimmten Prozentanteil. Insofern handelt es sich nicht mehr um eine klassische Berufsunfähigkeits, sondern um eine mit bestimmten Modifikationen ausgestaltete Erwerbsunfähigkeitsversicherung. Dies führt zur Unwirksamkeit der Klausel, da es sich dem durchschnittlichen Versicherungsnehmer ungeachtet der oben angesprochenen Frage, ob eine solche Regelung auch auf inhaltliche Bedenken stößt jedenfalls nicht mit der für das Transparenzgebot erforderlichen Deutlichkeit erschließt12.
Bundesgerichtshof, Urteil vom 15. Februar 2017 – IV ZR 91/
- BGH, Urteil vom 17.02.2010 – VIII ZR 67/09, BGHZ 184, 259 Rn. 18 [↩]
- BGH, Urteil vom 07.02.1996 – IV ZR 16/95, VersR 1996, 485 unter – I 2 a; BGH, Urteile vom 17.02.2010 aaO; vom 01.12 2005 – I ZR 103/04, NJW-RR 2006, 758 Rn. 26; vom 13.11.1997 – X ZR 135/95, NJW 1998, 1066 unter – II 2 b, c; vom 03.12 1991 – XI ZR 77/91, NJW 1992, 503 unter – II 2 a [↩]
- BGH, Urteil vom 07.02.1996 aaO für die Gestaltung von Laufzeitklauseln in Versicherungsverträgen; ferner BGH, Urteil vom 13.07.1994 – IV ZR 219/93, r+s 1994, 363 unter 2 für den vorgedruckten Text „Versicherungsdauer 10 Jahre“ [↩]
- BGH, Urteil vom 13.11.1997 – X ZR 135/95 aaO unter – II 2 b, c [↩]
- BGH, Urteil vom 20.07.2011 – IV ZR 180/10, VersR 2011, 1173 Rn. 25 [↩]
- BGH, Urteil vom 20.03.2014 – VII ZR 248/13, BGHZ 200, 326 Rn. 27; Palandt/Grüneberg, BGB 76. Aufl. § 305 Rn. 23 [↩]
- BGH, Urteil vom 26.03.2014 – IV ZR 422/12, VersR 2014, 625 Rn. 35; BGH, Urteil vom 12.10.2007 – V ZR 283/06, NJW-RR 2008, 251 Rn. 13 [↩]
- BGH, Urteil vom 04.03.2015 – IV ZR 128/14, VersR 2015, 571 Rn. 14; BGH, Beschluss vom 11.02.2009 – IV ZR 28/08, VersR 2009, 533 Rn. 14; BGH, Urteil vom 09.12 2015 – VIII ZR 349/14, NJW 2016, 2101 Rn. 29 [↩]
- st. Rspr., vgl. etwa BGH, Urteile vom 23.06.1993 – IV ZR 135/92, BGHZ 123, 83, 85; vom 26.10.2016 – IV ZR 193/15, VersR 2017, 90 Rn. 17 [↩]
- vgl. BGH, Urteil vom 14.12 2016 – IV ZR 527/15, MDR 2017, 151 Rn. 23 [↩]
- vgl. BGH, Urteil vom 07.12 2016 – IV ZR 434/15, VersR 2017, 147 Rn. 25 [↩]
- vgl. zur Hinweispflicht des Versicherers bei Erwerbsunfähigkeitsklauseln Lücke in Prölss/Martin, VVG 29. Aufl. § 172 Rn. 126 [↩]